Der Kodex ATID und der Pappkamerad
Vorsicht, Satire! Wie ATID diesen und alle künftigen Wahlkämpfe gewinnen will
von Ernst Meir Stern
In der Liebe und im Wahlkampf ist bekanntlich alles erlaubt. Daher ist es unseren Experten für Aufklärung und Gegenspionage einmal mehr geglückt, eine Vorstandssitzung der Mehrheitspartei mittels – nein, das muss geheim bleiben, – zu belauschen und Erstaunliches zu enthüllen …
„Freunde“, meint der Präsident im Kreise seiner Paladine (wir vermuten, mit sorgenumwölkter Stirn), „manche von uns glauben offenbar, die kommende Wahl ist eine gemähte Wiese. Aber wer weiß, was den Querulanten von Chaj, Respekt und dem Bund bis dahin noch alles einfallen wird.“ (Dabei immer lauter werdend): „Ich sag s‘ euch offen, unsere eigene Kampagne ist mir bis jetzt zu brav, zu lasch, zu bieder! Also lasst euch gefälligst schnell was einfallen! Ich verlange, dass aus diesem Brainstorming irgendwas Originelles herauskommt, etwas, das noch keiner gemacht hat. Also Ärmel aufkrempeln!“
Die Aufnahme der folgenden zwei Stunden kann infolge chaotischen Stimmengewirrs leider nicht dokumentiert werden, doch dann tritt plötzlich Stille ein und der Chef ist klar zu vernehmen:
„Schau, lieber Chawer, dir fehlt noch einiges an politischer Erfahrung. Natürlich respektiere ich deinen Einwand, dass wir mit gescheiten Programmen und Konzepten punkten sollten, aber das können wir getrost unserer Konkurrenz überlassen. Sollen die sich nur ruhig abstrampeln.“ (murmelnd): „Tschapperl“…
(Weibliche Stimme) „Wenn uns eine Idee gefällt, präsentieren wir sie sowieso immer irgendwann als unsere eigene. Ist alles nur eine Sache der richtigen Aufmachung, Formulierung und des Timings. Und da sind wir Champions!“
(Frauenstimme) „Wie wär’s, wenn wir lebensgroße Kartonfiguren unseres Spitzenkandidaten anfertigen lassen und überall aufstellen? Als Zeichen, dass er über seine geliebte Gemeinde quasi ständig wacht? Und als Gegengewicht zum Konkurrenten, der ja überall auftaucht, wo mehr als 5 Personen beisammen sind?“
(jetzt wieder der Vorsitzende) „ Schnapsidee! Willst du mich zum Pappkameraden degradieren? Höchstens eine, die stelle ich bei den Spielen von MACCABI auf, damit die Burschen ihren Präsidenten sehen und mehr rennen! So, und jetzt weiter zum Protokoll: Wir werden uns also am Beispiel der Bundespolitik orientieren und einen verbindlichen Verhaltenskodex für ATID – Mitglieder und Wähler ausarbeiten. Die Idee mit dem Ehrenkodex hat Aufsehen erregt und mit so etwas ähnlichem sollten wir in den Wahlkampf gehen. Frau Schriftführerin, bitte notiere folgenden Textentwurf:
Hiermit akzeptiere und befolge ich folgende Grundwahrheiten und Regeln:
§ 1: Am Anfang herrschte Chaos, bereschit hajta undsoweiter. Dann entstand das politische Zentralgestirn, ATID genannt, um welches seither der Mikrokosmos unserer jüdischen Gemeinde kreist.
§ 2: Ich bin zukunfts – und daher ATID – orientiert und verschwende daher keine Gedanken an alles, was oder wer vor ATID war und passierte.
§ 3: Ich akzeptiere, dass alles, was in dieser jüdischen Gemeinde an Strukturen, materiell, kulturell und geistig wertvollem geschaffen wurde, einzig und allein ATID und den von ATID gestellten Präsidenten zu verdanken ist.
§ 4: Ich nehme zur Kenntnis: Sofern es sich absolut nicht vermeiden lässt, dass Leistungen anderer gewürdigt werden müssen, bedarf dies einer ausdrücklichen Genehmigung der obersten Gremien von ATID.
§ 5: Ich erkläre mich mit folgendem einverstanden: Jedwede öffentlich geäußerte Nörgelei ist unstatthaft an folgen Institutionen und deren MitarbeiterInnen: Die IKG und alle ihre Abteilungen und Kommissionen selbst, ihre Medien, das Maimonides Zentrum, die Zwi Perez Chajes Schule und ihr Kindergarten, ESRA und das JBBZ sowie der S.C. MACCABI. Sie alle werden hiermit offiziell zu Tabuzonen erklärt.
§ 6: Ich bin des weiteren einverstanden: Sollten doch kritikwürdige Um – oder Zustände in diesen Bereichen eintreten, wird dies ausschließlich intern im Führungsgremium von ATID abgehandelt. Kritik, von wo oder wem auch immer außerhalb von ATID, werde ich ignorieren oder abschmettern.
§ 7: Ich werde jede abfällige Äußerung bzw. Kritik, verbal oder medial, gegenüber Gruppierungen oder deren Exponenten vermeiden, solange sich diese in einem politischen Bündnis mit ATID befinden.
§ 8: Ich setze mein uneingeschränktes Vertrauen in die Integrität, Intelligenz und umfassende fachliche Kompetenz aller Mitarbeiter von ATID.
§ 9: Ich werde deren hervorragende Eigenschaften im Familien- und Freundeskreis nach besten Kräften mündlich und schriftlich verbreiten.
§ 10: Bei künftigen Wahlen zum Kultusvorstand werde ich meine Stimme selbstverständlich den Kandidaten von ATID geben.
Noch Einwände oder Ergänzungen? Nein? Danke, das war’s dann für heute.“
Es folgen anhaltende Ovationen. Danach lässt sich nur noch eine jugendliche Stimme vernehmen:
„Bitte, ich hätte da noch einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn wir diesen Ehrenkodex nach gewonnener Wahl, und daran zweifelt wohl niemand von uns, per Kultusvorstandsbeschluss für alle Zeiten in das Statut der IKG aufnehmen lassen?“
Erneut bricht Jubel und Applaus aus. Der Rest ist irrelevanter Small-talk …